„Ich erlaube mir, um die deutschen Opfer des Zweiten Weltkriegs zu trauern“ – Gespräch mit der Autorin des Romans „Die Tiefe“ (poln. „Toń“) – Ishbel Szatrawska

Natalia Prüfer: „Die Tiefe“ ist dein Debütroman, der das Schicksal mehrerer Generationen einer Familie schildert, das mit dem ehemaligen Ostpreußen verbunden ist. In Polen erschien das Buch 2023, jetzt liegt die deutsche Ausgabe vor, und du befindest dich gerade zu einem mehrmonatigen Stipendium in der Schweiz. Herzlichen Glückwunsch!

Janka, die Hauptfigur des Romans „Die Tiefe“, erinnert mich ein wenig an deine Großmutter. Du hast erzählt, dass auch sie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aus Litauen floh und bei den Polen in Masuren Zuflucht fand. Im Schlepptau eine schwere Singer-Nähmaschine. Du selbst stammst aus der Gegend, in der dein Buch spielt, also aus Masuren, dem ehemaligen Ostpreußen. Genau wie Alicja – die Enkelin von Janka – lebst du in Krakau. Mal ganz direkt gefragt: Verbirgt sich in dem Roman deine eigene Geschichte?

Ishbel Szatrawska: Nein. Ich betrachte das Buch als Fiktion. Ich erfinde gerne Szenen und Figuren. Tatsächlich sind Teile des Romans jedoch Collagen aus den Erlebnissen von Familienangehörigen oder Personen aus meiner Umgebung. Ich frage immer, ob ich ihre Geschichten und Erinnerungen benutzen darf, was mir bisher noch niemand verwehrt hat. Aber „Die Tiefe“ ist nicht die Geschichte meiner Familie. Apropos Nähmaschine, ich muss zugeben, dass dieses Motiv für mich ein sehr wichtiges narratives Element war, ein bisschen so etwas wie ein Requisit im Theater. Die ganze Geschichte und die Hauptlinien des Buches nahmen in meinem Kopf nach und nach Gestalt an, aber erst als ich an die Nähmaschine dachte, fügte sich alles zusammen, und das Puzzle aus Figuren und Handlungssträngen begann sich zu einem kohärenten Ganzen zusammenzusetzen. Die Maschine hat hier auch eine symbolische Bedeutung, sie ist das Werkzeug, mit dem Janka ihre Familie ernähren kann.

N. P.: Ein Teil deiner Familie stammt jedoch aus dem Wilnaer Land.

I. Sz.: Ja, und dann haben sie sich in einem Gebiet niedergelassen, in dem zuvor Deutsche gelebt haben. Das Thema „Repatriierung“ hat mich schon immer interessiert, und ich finde es äußerst bedauerlich, wenn es nicht ernst genommen, weil es vermeintlich nur einen kleinen Personenkreis betrifft, oder klischeehaft behandelt wird. Ich bin in Kętrzyn (dem ehemaligen Rastenburg) aufgewachsen, wo fast ausschließlich Repatriierte gelebt haben. Ukrainer, Wilnaer, aber auch Autochthonen, also Deutsche, die aus unterschiedlichen Gründen geblieben und nicht geflohen sind. Als Kind war das für mich nichts Ungewöhnliches und hatte keine Bedeutung. Die einen Nachbarn gingen in die katholische Kirche, die anderen in die orthodoxe. Die einen hatten Nachnamen, die auf „-uk“ endeten (eine ukrainische Endung – Anm. N. P.), die anderen deutsche Nachnamen, das war für mich völlig normal.

N. P.: Wann hast du entdeckt, dass es in gewisser Weise doch ungewöhnlich war?

I. Sz.: Es gab keine bestimmte Situation, es war eher ein Prozess. Es ist faszinierend, wenn man als Erwachsene plötzlich entdeckt, in was für einem multikulturellen Umfeld man aufgewachsen ist. So war es zumindest bei mir. Der Wendepunkt war mein Studienaufenthalt in Krakau.

N. P.: Eine Stadt, die man mit Polentum, Tradition und Geschichte assoziiert …

I. Sz.: Ja. Im Roman mache ich mich darüber ein wenig lustig, Alicja, die Heldin des Buches, ärgert sich über Krakau genauso wie ich, trotzdem liebe ich diese Stadt, sie ist mir ans Herz gewachsen. Die Polen betrachten Krakau als einen monolithen Block, aber diese Stadt hat auch eine nicht-polnische Geschichte. Im Mittelalter war Krakau eine deutsche Stadt, das Bürgertum bestand vor allem aus Deutschen, die Stadt hat schon immer eine jüdische und tschechische Geschichte und Kultur gehabt. Als ich nach Krakau kam, wurde mir klar, dass ich im tiefsten Inneren eine Preußin bin (lacht). Deutsche Städte sind für mich städtebaulich übersichtlicher, ich bin in Olsztyn aufgewachsen, einer Stadt mit preußischer Architektur. In den Städten in Zentralpolen verliere ich immer die Orientierung (lacht). Für mich ist es vollkommen normal, dass es auf dem Flohmarkt oder im Antiquariat deutsche Postkarten und Bücher gibt. Es ist so etwas wie ein Grenzraum.

N. P.: Ein Raum, der bis heute zu Unrecht als „wiedergewonnene Gebiete“ bezeichnet wird, ein Ausdruck, der längst hätte ersetzt werden sollen, da es sich hierbei um eine kommunistische Begrifflichkeit handelt und niemand etwas wiedergewonnen hat. Es handelt sich vielmehr um Gebiete, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an Polen angegliedert wurden und in denen bereits die dritte, vierte Generation von Polen lebt. Inzwischen sind achtzig Jahre vergangen, und die Bewohner dieser Regionen sprechen endlich offen über ihre Geschichte, über die zugewanderte Bevölkerung, über die Deutschen, die einst dort lebten. Darum geht es in deinem Buch „Die Tiefe“, aber auch in der zeitgenössischen polnischen Sachliteratur ist dies mittlerweile ein wichtiges Thema. Mussten so viele Jahre vergehen, bis es endlich möglich wurde, dass wir uns dieser Geschichte annehmen? Woran liegt das?

I. Sz.: Ich glaube nicht, dass dies erst seit Kurzem möglich ist. In Masuren, wo ich aufgewachsen bin, ist seit den 1990er Jahren die rührige Stiftung Borussia aktiv, die die Fundamente für einen deutsch-polnischen Dialog gelegt hat. Erinnert sei auch an die sogenannte „Prosa des Nordens“, also an Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die älter sind als ich, wie zum Beispiel Joanna Wilengowska. Aber du hast Recht, dieses Thema kehrt zurück, es wird diskutiert. Es ist tatsächlich ein Prozess. Seit 2004 ist Polen Mitglied der Europäischen Union, wir sind mobiler geworden, haben uns etabliert, wir fühlen uns nicht mehr als „hässliches Entlein“ Europas, sondern haben an Selbstvertrauen gewonnen, auch bei diesen Themen. Wahrscheinlich musste einfach so viel Zeit vergehen. Meine Großeltern haben sich sehr um die ehemals deutsche Wohnung gekümmert, in der sie nach dem Krieg Zuflucht gefunden hatten. In unserer Familie war das nie ein Tabuthema, wir haben darüber gesprochen, dass hier früher Deutsche gewohnt haben.

N. P.: Glaubst du, dass das der Grund war, warum du ein so mutiges Buch geschrieben hast?

I. Sz.: Nein, ich trage einfach eine große Sehnsucht nach dieser Gegend in mir. Ich werde wohl nicht mehr nach Kętrzyn oder Olsztyn zurückkehren, um dort zu wohnen, der Roman „Die Tiefe“ ist Ausdruck meiner Nostalgie. Diese Gegend ist meine Heimat.

N. P.: Du hast erwähnt, dass deine Großeltern gerne über die Vergangenheit ihrer Wohnung gesprochen haben …

I. Sz.: Das stimmt nicht ganz. Sie hatten während des Zweiten Weltkriegs schreckliche Erfahrungen mit den Deutschen gemacht, aber sie sind mit diesen Geschichten nicht hausieren gegangen. Manchmal bedaure ich, dass sie mir nicht alles erzählt haben. Ich war ein Kind, sie wollten mich vor diesen schrecklichen Geschichten schützen. Nach dem Krieg führten sie ein stabiles, sicheres Leben und hatten gute Jobs. Sie mussten sich vor nichts fürchten. In diese Gegend kamen jedoch sehr viele Menschen, die in ständiger Angst lebten. Sie wohnten auf dem Gelände der staatlichen Landwirtschaftsbetriebe und wussten nicht, ob man sie nicht vielleicht doch irgendwann wieder aus den ehemals deutschen Häusern vertreiben würde. Einige waren sogar bereit, jederzeit zu fliehen, saßen auf gepackten Koffern. Sie arbeiteten hart und hatten oft nicht die Mittel und Möglichkeiten, die ehemals deutschen Gebäude zu renovieren oder auszubauen, weshalb viele der Häuser verfielen. Die Polen ärgern sich noch heute oft darüber, aber man muss die Situation dieser Menschen verstehen.

N. P.: Dieses Phänomen erklärt auch Karolina Kuszyk in ihrem Buch „In den Häusern der anderen“ (poln. „Poniemieckie“).

I. Sz.: Genauso ist es. Es gab aber auch Menschen, Fachleute, die sich um das zurückgelassene Eigentum kümmerten und sich von den Kommunisten nicht daran hindern ließen, im Gegenteil. Ich erinnere mich, dass ich einmal einen kurzen deutschen Zeitungsartikel übersetzen musste, in dem davon berichtet wurde, wie prächtig sich das Gestüt in Kętrzyn entwickelt habe, und dass sein polnischer Direktor gut Deutsch spreche und sich um alles wunderbar kümmere. Für den deutschen Journalisten war das unglaublich! Man kann also nicht pauschal sagen, dass in der Zeit des Kommunismus alles verfallen wäre und sich niemand um irgendetwas gekümmert hätte, das stimmt nicht. Wenn ich mir das Ermland und Masuren ansehe, habe ich sogar den Eindruck, dass vielerorts erst der Kapitalismus diese Gebiete verschandelt hat, die politische Transformation in den 1990er Jahren ist dort ziemlich brutal gewesen.

N. P.: Kommen wir zurück zu deinem Buch „Die Tiefe“. Der Verlag Voland & Quist hat deinen Roman auf Deutsch herausgebracht, in der Übersetzung von Andreas Volk. Was kann der deutsche Leser in diesem Roman für sich entdecken?

I. Sz.: Ich habe vor Jahren „Luftkrieg und Literatur“ von W. G. Sebald gelesen. Eine hervorragende Sammlung von Vorträgen über Literatur, die sich aus deutscher Perspektive, vor allem aber aus der Perspektive deutscher Zivilisten, mit dem Thema „Krieg“ auseinandersetzt. Sebald vertritt darin unter anderem die These, dass die Deutschen aufgrund ihres Schuldgefühls, für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich zu sein, sich in der Literatur nie erlaubt haben, um ihre Angehörigen zu trauern, die sie bei den alliierten Flächenbombardements verloren haben. Das hat mich sehr berührt, ich fand das schrecklich, unmenschlich. Niemandem darf die Trauer um die Verstorbenen verwehrt werden, und auch die deutschen Zivilisten waren Opfer dieses Krieges. Für manchen mag das politisch nicht korrekt klingen, aber die Erlebnisse der Zivilbevölkerung sind nach wie vor ein schwieriges Thema in unseren deutsch-polnischen Beziehungen. Natürlich gibt es dazu viele Publikationen, in Polen beschäftigt sich zum Beispiel das „Zentrum Karta“ (poln. Ośrodek Karta) mit diesem Thema. Die vom Zentrum herausgegebenen Publikationen haben mich zum Schreiben des Romans inspiriert. Ich erwähne nur: „Wypędzone“ („Die Vertriebenen“) von Helene Plüschke, Esther von Schwerin und Ursula Pless-Damm, „Dzienniki z Prus Wschodnich“ („Ostpreußisches Tagebuch“) von Hans von Lehndorff, „Miasto utracone“ („Zeugnis vom Untergang Königsbergs“) von Michael Wieck oder „Prusy Wschodnie. Historia i mit“ („Ostpreußen: Geschichte und Mythos“) von Andreas Kossert (letztgenanntes Werk wurde vom Verlag Wydawnictwo Naukowe Scholar herausgegeben).

Damals dachte ich mir etwas frech und anmaßend, wenn die Deutschen sich keinen Raum für diese Trauer gegeben haben, dann ist das unsere Aufgabe. Wir – die Nachkommen der Opfer des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs – sollten auch an die Opfer auf deutscher Seite erinnern, an die deutschen Zivilisten, denn dies ist auch Teil unserer Geschichte. Das Leiden aller Zivilisten ist ein Verbrechen. Darum geht es in „Die Tiefe“.

N. P.: Ein weiterer wichtiger Aspekt für den deutschen Leser könnte die Nachkriegsgeschichte Ostpreußens sein, oder?

I. Sz.: Auf jeden Fall! Im Roman gibt es das Motiv der Amputation, eine große Rolle spielt die Belagerung von Königsberg. Ich glaube, dass bei den Bewohnern im heutigen Ermland und Masuren so etwas wie ein Phantomschmerz existiert … Das spürt man insbesondere in der Nähe der russischen Grenze, denn Königsberg gehört jetzt zum Kaliningrader Gebiet. Selbst heute noch findet man am Bahnhof in Kętrzyn (ehemals Rastenburg) Schilder in altdeutscher Schrift (Schwabacher Schrift), die darauf hinweisen, dass sich im Osten Prostken (heute Prostki) befindet – einst eine Grenzstadt zwischen Preußen und Russland – und nur hundert Kilometer nordwestlich Königsberg liegt. Ich schaue auf dieses Schild und denke mir, dass ich nie nach Königsberg fahren werde. Ich habe das Gefühl, dass dies meine wahre Hauptstadt ist, wohin ich nie gelangt bin und womöglich nie gelangen werde, die furchtbar zerstört und deren Geschichte verborgen wurde. Davon erzählt zum Beispiel auch das Buch „Miasto bajka“ (Die Märchenstadt) von Paulina Siegień. Versteh mich nicht falsch, ich mache denjenigen, die die Grenze neu festgelegt haben, keine Vorwürfe, ich möchte keine weiteren bewaffneten Konflikte, aber ich habe das Gefühl, dass viele Menschen eine Sehnsucht nach der Geschichte Königsbergs verspüren, eine Geschichte, die durch die sowjetische Nachkriegsarchitektur vollständig ausgelöscht wurde. Danzig wurde ebenfalls zerstört, aber wie liebevoll und mit welchem Geschichtsbewusstsein wurde es wieder aufgebaut. In Königsberg ist das leider nicht geschehen.

N. P.: Ich kann kaum glauben, dass du nie in Königsberg gewesen bist, du beschreibst diese Stadt in deinem Roman mit einer solchen Genauigkeit!

I. Sz.: Ich liebe es, beim Schreiben Fotos zu verwenden. Ich empfehle allen das Bildarchiv Ostpreußen – das ist eine riesige digitalisierte Fotodatenbank, alle Bilder sind in drei Sprachen beschrieben. In „Die Tiefe“ gibt es eine Szene, in der Fischernetze geflickt werden, erinnerst du dich? Ich habe Bilder gesehen, auf denen Zivilisten Netze in Ordnung bringen, das hat mich inspiriert.

N. P.: Fotos, historische Bücher … Wie hast du dich sonst noch auf das Schreiben vorbereitet?

I. Sz.: Meine Recherchen für dieses Buch fielen in die Zeit der Pandemie und die Zeit unmittelbar danach. Ich habe mir Fotos angesehen, Bücher gelesen, bin nicht verreist. Ich habe mit Menschen aus deutsch-polnischen Familien aus Masuren gesprochen und bei einigen Szenen Historiker konsultiert. Nachdem ich das Buch geschrieben hatte, schickte ich den Text an verschiedene Personen aus meinem engsten Umfeld, mir war ihre Meinung wichtig, ich wollte nicht, dass sie sich beleidigt fühlten. Ich wollte sichergehen, dass ich bestimmte Dinge nicht überinterpretiert hatte. Ich hielt es für selbstverständlich, dass ich als jemand, der aus einer zugezogenen Familie ohne deutsche Wurzeln stammt, mit Menschen spreche und mich von ihnen beraten lasse, die diese Erfahrungen gemacht haben. Keiner dieser Leser hatte Anmerkungen.

N. P.: Wie wurde dein Buch auf Deutsch aufgenommen?

I. Sz.: Bisher gut, das berührt mich sehr. Ein Leser schrieb mir, dass ich ein ausgezeichnetes Verständnis für die deutsche Seele habe. Ich habe angefangen, darüber nachzudenken, woher das bei mir kommt. Ich glaube die Tatsache, dass ich aus einer zugewanderten Familie stamme, spielt dabei eine große Rolle. Meine Vorfahren sind vor der Roten Armee geflohen und erlebten während der Pogrome auch Gewalt vonseiten der Polen. Vielleicht fällt es mir deshalb leichter, die deutsche Seele zu verstehen? In meinen Adern fließt polnisches, litauisches, jüdisches und belarusisches Blut. Wenn mir jemand sagen würde, dass unter meinen Vorfahren auch Deutsche oder Tataren waren, würde mich das überhaupt nicht wundern (lacht).

N. P.: Ich denke, das ist in Polen eine ganz typische Mischung, nur spricht man nicht darüber …

I. Sz.: Ja. Wir sind alle gemischter Herkunft. Jan Matejko, der als urpolnischer Maler gilt, hatte einen tschechischen Vater und eine deutsche Mutter.

N. P.: In „Die Tiefe“ haben wir Figuren unterschiedlicher Herkunft. Es gibt da Deutsche, Polen, Litauer und Masuren. Es ist aber auch ein Roman über Frauen und ihre Rolle in Kriegszeiten, über ihren Mut, ihre Findigkeit, ihre Emanzipation. Lass uns über die wichtigste Frau in deinem Buch sprechen – Janka.

I. Sz.: Ja, Janka steht mir nahe. Sie ist das Ergebnis meiner diversen Überlegungen zum Thema „Frauen in Kriegszeiten“. Unabhängig von ihrer Herkunft waren diese derart stark, nicht kleinzukriegen, findest du nicht? Während des Krieges ermöglichte ihre Stärke und Entschlossenheit nicht nur den Frauen selbst, sondern auch ihren Familien zu überleben. Janka ist eine Frau, die ihre Familie ernähren muss, alle versorgt und das Geld verdient. Der Krieg neigt sich dem Ende zu, aber rundum ist alles zerstört, und es gibt keine Männer. Also kümmern sich die Frauen um alles, sie tragen die Last, für das Überleben der nächsten Generationen zu sorgen.

N. P.: Ist der deutsche Arzt Max eine weitere Hauptfigur des Romans? Auch er ist eine starke Figur, und er spielt im Krieg ebenfalls eine wichtige Rolle. Er rettet deutschen und, wenn es sein muss, auch sowjetischen Soldaten das Leben …

I. Sz.: Max ist für mich besonders wichtig, diese Figur war für mich eine große Herausforderung, denn er ist ein innerlich zerrissener Held, wie die Helden in der griechischen Tragödie: Egal welche Entscheidung er trifft, es wird die falsche sein. Max wächst nach dem Ersten Weltkrieg in der Weimarer Republik auf, als er dann erwachsen wird, lebt er bereits im Dritten Reich. Er nimmt die Unzulänglichkeiten des Systems wahr, die Entwicklung hin zum Totalitarismus, der in jeden noch so kleinen Teil seines Lebens eindringt. In ihm „brodelt“ es, er kämpft mit sich, ist nicht einverstanden, versinkt aber gleichzeitig in diesem System.

N. P.: In deinem Roman greifst du das Thema „Flucht“ auf. Menschen fliehen, sie fürchten um ihr Leben, sie wandern mit ihren Habseligkeiten durch Europa. So war es vor achtzig Jahren, und so ist es auch heute wieder. Einer der Protagonisten des Buches ist ein Aktivist an der belarusischen Grenze zu Polen in der Gegenwart; er versucht, Flüchtlingen zu helfen, die nicht in unser Land gelassen werden. Das geschieht hier und jetzt, im 21. Jahrhundert. Wolltest du auf diese Weise betonen, dass Flucht eine universale Erfahrung ist? Beziehungsweise auf die aktuelle politische Situation in Europa verweisen?

I. Sz.: Wir sprechen gerne davon, dass Geschichte dazu neigt, sich zu wiederholen. Das Thema „Migration und Flucht“ ist ein Dauerthema, es wird aber noch an Bedeutung gewinnen. Ich freue mich, dass du diese Frage überhaupt stellst, denn in Polen sprechen Journalisten das Thema der geschlossenen Grenze zu Belarus und der dortigen Ereignisse überhaupt nicht an. Es ist ein unangenehmes Thema, das im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen in Polen politisch instrumentalisiert wurde. Für mich ist das eine tragische Situation, und vor allem kurzsichtig. Die Menschen werden von dort, also aus den Wäldern an der Grenze zu Polen, nicht einfach verschwinden, sie werden sich nicht in Luft auflösen. Außerdem wird der Migrationsdruck weiter zunehmen: Wir befinden uns in einer Klimakrise, wir haben Kriege in verschiedenen Teilen der Welt. Auch wenn viele Polen das nicht wahrhaben wollen, gehören wir zum wirklich privilegierten Teil der Welt – das sollten wir nicht vergessen. Polen ist nach wie vor ein relativ sicheres, wirtschaftlich aufstrebendes Land, wir sind ein attraktiver Ort für Zufluchtsuchende. Die Politiker nutzen dies für ihre politischen Ziele aus, verlieren dabei jedoch aus dem Blick, dass es um Menschen geht. Es ist eine Pattsituation, die erschüttert und die polnische Gesellschaft stark polarisiert. Das zeigte sich nach der Premiere von Agnieszka Hollands Film „Zielona granica“ („Die grüne Grenze“) von 2023. Der Film fand in den Medien ein großes Echo und zeigt, wie die Menschen, die in den Wäldern an der polnischen Grenze herumirren, vom polnischen Grenzschutz misshandelt werden. Nach den Parlamentswahlen in Polen 2024 wurde das Thema unter den Teppich gekehrt und die Narration änderte sich. Man begann sogar, die Regisseurin zu beschuldigen, sich alles ausgedacht zu haben. In der Politik, in den Medien und in polarisierten Gesellschaften geht immer das Menschsein verloren. Es mag nach einer katastrophistischen Vision klingen, aber in einigen Teilen der Welt wird es schon bald nicht mehr möglich sein, zu leben, es werden also immer mehr Flüchtlinge kommen. Aber zurück zum Roman: Wenn wir das Flüchtlingsdasein im Allgemeinen beschreiben, verlieren wir die individuellen Geschichten aus den Augen. Deshalb fische ich mir exemplarisch zwei Menschen heraus: Max und Janka, und zeige ihr Schicksal und ihre Erlebnisse unter den Kriegsbedingungen in Europa.

N. P.: In deinem Roman gibt es jedoch noch einen weiteren wichtigen Aspekt: Ein schrecklicher Krieg geht zu Ende, es herrscht Hunger, Menschen verschiedener Nationalität müssen wieder bei null anfangen, sie leben zusammen, teilen ihr Essen, helfen sich gegenseitig: Polen, Deutsche, Masuren, Litauer …

I. Sz.: Ja, das stimmt, aber man darf das auch nicht durch eine rosarote Brille sehen. Der polnische Leser bemerkt, dass sich hier langsam der monolithe Block der Volksrepublik Polen herausbildet, wo es kein Eigentum gibt, alle ein normiertes Polnisch sprechen und die Nachnamen polonisiert werden. Der Kommunismus hat gewisse soziale Verdienste vorzuweisen, unabhängig davon, wie totalitär und erniedrigend dieses System auch war. Es lässt sich zum Beispiel nicht leugnen, dass er den Analphabetismus bekämpfte und sich für einen allgemeinen Zugang zur Bildung und Gesundheitsversorgung einsetzte. Aber in dieser Bildung ging, auch aus ideologischen Gründen, die Multikulturalität verloren, und mit ihr unter anderem die Dialekte und verschiedenen Sprachen, die früher in Polen gesprochen wurden. Erst jetzt versuchen wir, diese wiederzubeleben. In Deutschland oder der Schweiz gibt es weiterhin Dialekte, und sie sind lebendig – das erfüllt mich ein wenig mit Neid.

N. P.: Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute.

Ishbel Szatrawska – 1982 in Olsztyn (ehemals Allenstein) geboren, studierte polnische Literatur- und Theaterwissenschaft an der Jagiellonen-Universität in Krakau, wo sie auch heute lebt und schreibt. Sie ist Autorin von sechs Theaterstücken, u. a. „Żywot i Śmierć Pana Hersha Libkina z Sacramento w Stanie Kalifornia“ („Leben und Tod des Hersh Libkin aus Sacramento, Kalifornien“) (Eurodram: Auswahl 2022). Ihr Debütroman „Toń“ („Die Tiefe“) stand auf Platz eins der Bestsellerliste für polnische Literatur und wurde zu einem der „10 besten Bücher des Jahres“ gewählt.

Ihr Roman „Toń“ erschien im September 2025 in deutscher Sprache (Übersetzung: Andreas Volk) im Verlag Voland & Quist. Ihr neuestes Buch „Wyrok” wurde 2025 für den renommierten Preis „Paszporty Polityki” nominiert.

Das Gespräch zwischen Natalia Prüfer und Ishbel Szatrawska fand im November 2025 dank der finanziellen Unterstützung der Geschäftsstelle der Polonia und dank der Gastfreundschaft des Polnischen Instituts in Berlin statt. Das Foto hat Martyna Witkowska gemacht. Vielen herzlichen Dank!

Übersetzung ins Deutsche: DeepL, Redaktion: Natalia Prüfer, Andreas Volk